Ratschlag an mich selbst

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Jamyang Khyentse Chökyi Lodrö

Jamyang Khyentse Chökyi Lodrö

Ratschlag an mich selbst, um versteckte Schwächen aufzudecken

von Jamyang Khyentse Chökyi Lodrö

Vater, edler Guru, Verkörperung aller Quellen der Zuflucht, sorge für mich!

Ich habe eine einzigartige menschliche Gestalt mit allen Freiheiten und Vorteilen erlangt,
doch aufgrund meines schlechten Karmas bin ich an die Erfahrungen dieses Lebens gefesselt,
mein Charakter ist niederträchtig, minderwertig, boshaft und unnachgiebig,
und mein Geist ist wie von einer chronischen Krankheit geplagt.

In diesen Zeiten habe ich kaum noch die Gelegenheit,
dem authentischen Guru, der mein einzig wahrer Vater ist, direkt zu begegnen,
und obwohl ich eine Fülle von Belehrungen erhielt,
habe ich es versäumt, sie auf meinen Geist anzuwenden, wie ein Hund, dem man Gras vorsetzt.

Auch wenn dieses Kind sich das hohe Ziel der Befreiung gesteckt hat,
ist es gefangen in der Schlinge von negativen Emotionen wie Verlangen,
und sein Kopf ist so tief gesenkt, als wäre er in den Höllen verankert worden.
Das ist der Preis dafür, Wut und Groll in sich getragen zu haben.

Obwohl der authentische edle Guru für einen Moment die
kindgleiche Weisheit des reinen Gewahrseins, die wahre Natur des Geistes, enthüllt hat,
habe ich mich nicht soweit damit vertraut gemacht, dass sie spontan geworden ist,[1]
es ist wie ein Lichtblick zwischen dicken Wolken – ach wie schade!

Während der Dämon, der Herr des Todes, mich mit seinem wütenden Blick anstarrt
und die schwarze Schlinge des schlechten Karmas sich um meinen Hals zusammenzieht,
ist es fast an der Zeit, dass seine Waffe, die Axt, meine Lebensader durchschneidet.
Noch drei Schritte und der Herr des Todes hat mich gepackt.

Wenn ich den leblosen Leichnam der vier Elemente zurücklasse
und meinen Weg fortsetze, ohne Gefährten und allein,
werde ich keinen anderen Beschützer oder Verteidiger haben als dich,
mitfühlender Guru, unübertroffener Beschützer, zu dem ich bete.

Während ich den Spuren meiner positiven und negativen Taten folge,
werde ich nur wenige heilsame Taten angesammelt haben,
aber ich werde einen riesigen Berg von Missetaten angehäuft haben,
und wie sehr ich mich auch bemühe, es wird mir nicht gelingen, sie alle hinter mir zu lassen.

Wenn die Resultate dieser Handlungen direkt reifen,
wird es keinen einzigen Moment des Aufatmens geben,
ich werde keine andere Wahl haben, als die Früchte meiner eigenen Taten zu ernten.
Zu dieser Zeit, wenn ich vor Verzweiflung schreie – Kyehü! Kyehü!
wird mein zukünftiger Geist sicherlich große Reue empfinden.

Bemühe dich deshalb im Dharma, Lodrö,
bevor du die Last deiner Missetaten ertragen musst.
Verschwende diese Freiheit nicht, solange du die Gelegenheit dazu hast,
oh Kind, sondern widme deinen Geist dem Entwickeln von Tugend.

Diese Worte des Rates gab ich mir selbst am zweiten Tag des Monats der Wunder im Schlangenjahr, als meine Gefühle zwischen Freude und Traurigkeit schwankten.


| Englische Übersetzung: Adam Pearcey, mit der großzügigen Unterstützung der Khyentse-Stiftung und des Tertön Sogyal Trust, 2021. Deutsche Übersetzung Daniel Dastagir und Yogini Amarani, 2023. Lektoriert von Karin Behrendt.


Bibliographie

Tibetische Ausgabe

'Jam dbyangs chos kyi blo gros. „rang la gros gdab mtshangs 'don gyi mgur glu/“ in 'Jam dbyangs chos kyi blo gros kyi gsung 'bum. 12 Bde. Bir: Khyentse Labrang, 2012. W1KG12986. Bd. 8: 421-422


Version: 1.0-20230906


  1. Wenn man ‚gris‘ als ‚dris‘ liest.  ↩

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