Eine Debatte zwischen Wachen und Träumen

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Mipham Rinpoche

Ju Mipham Namgyal Gyatso

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Eine Symphonie der Illusion

Eine Debatte zwischen Wach- und Traumzustand in Form eines Gesangs

von Mipham Rinpoche

Oṃ Svasti. Ich verneige den Scheitel meines Kopfes vor der edlen Gottheit Mañjushri! Ich werde nun folgende Diskussion vortragen:

Die Erscheinungen eines angenehmen Traumes in der letzten Nacht und der direkten Erfahrung des heutigen Wachzustandes gleichen sich darin, dass beide Anhaftung erzeugen können, und sie gleichen sich darin, dass beide ein Ende haben.

Der Traumzustand betrachtet das, was im Traum erscheint, als tatsächlich existent; der Wachzustand betrachtet das, was gerade jetzt im Wachzustand erscheint, als wirklich existent. Lasst nun Wachen und Träumen darüber debattieren, wer Recht hat.

Der Tageszustand, Wachsein, erklärt mit großer Übertreibung: „Traum der letzten Nacht, du bist die Erscheinung der Verblendung.“ Darauf antwortet der Traumzustand, Träumen, der Dinge magisch entfaltet: „Nicht nur ich, sondern auch du bist die Erscheinung der Verblendung.“

Wachsein fährt fort: „Das Hier und Jetzt ist keine Täuschung, sondern existiert wirklich. Der Beweis hierfür ist, dass die Objekte der Wahrnehmung tatsächlich erscheinen.“ Darauf antwortet Träumen: „Aber auch nachts erscheinen sie tatsächlich, dies ist also kein schlüssiges [Argument].“

Wachsein sagt: „Aber in diesem jetzigen Moment sind sie nicht hier, darum ist es eindeutig.“ Darauf antwortet Träumen: „Die heutigen Erscheinungen sind morgen nicht mehr da, also ist es nicht eindeutig.“

Wachsein sagt: „Ich nehme direkt mit den Sinnen wahr, also ist es eindeutig.“ Darauf antwortet Träumen: „Aber auch ich nehme direkt wahr, also ist es nicht ausschlaggebend.“

Wachsein sagt: „Meine Erscheinungen sind von langer Dauer und sind stabil, also sind sie der Beweis!“ Darauf antwortet Träumen: „Aber alles hat seine Dauer, ob kurz oder lang, in beiden unserer Zustände!“

Wachsein sagt: „Wenn du von felsigen Bergen träumst, kannst du ungehindert mitten durch sie hindurchgehen! Ich werde akzeptieren, dass dein Zustand wahr ist, wenn das auch im Wachzustand möglich ist.“ Darauf antwortet Träumen: „Dies könnte man unter den richtigen Bedingungen auch im Wachzustand tun, aber selbst im Schlaf ist es ohne Bedingungen nicht möglich.“

Wachsein sagt: „Aber dies kann auch ohne Bedingungen in einem Traum geschehen!“ Darauf antwortet Träumen: „Wenn dies so wäre, warum ist es dann nicht immer möglich?“

Wachsein sagt: „Du träumst von verstorbenen geliebten Menschen voller Zuneigung oder von der Geburt von Kindern und Enkelkindern, die du gar nicht hast! So etwas habe ich nicht.“ Darauf antwortet Träumen: „Zufälligerweise habe ich solche Dinge.“

Wachsein sagt: „Wenn ihre Anwesenheit nicht ihre tatsächliche Existenz beweist, wie können dann Kinder usw. für dich real sein? Tote können wieder zum Leben erwachen und was nicht existiert, kann erscheinen. Auch wenn es für dich existiert, ist es genauso, als ob es nicht existieren würde.“ Darauf antwortet Träumen: „Was für dich aufhört zu existieren, sehe ich, und was für dich nicht existent ist, wird für mich geboren. Auch wenn es für dich nicht existiert, ist es für mich genauso, als ob es existieren würde.“

Wachsein sagt: „Auch wenn du in der Nacht ein Festmahl mit köstlichen Speisen und Getränken genossen hast, stillt das nicht deinen Hunger und löscht auch nicht deinen Durst am [nächsten] Morgen.“ Worauf Träumen erwidert: „Während des Tages magst du in einer Villa ein Schläfchen halten, aber das schützt dich nicht vor dem Regen, der im Traum der kommenden Nacht fällt.“

Wachsein sagt: „Dies hat keine Bedeutung, denn es sind deine eigenen verblendeten Projektionen!“ Daraufhin antwortet Träumen: „Aber das Gefühl Durst zu haben und so weiter gründet auch auf verblendeten Projektionen.“

Wachsein sagt: „Während des Tages weißt du, dass die Träume der Nacht nicht wahr sind. Wie könnte Träumen beweisen, dass das, was man am Tage sieht, unwahr ist?“ Daraufhin antwortet Träumen: „Die Erfahrungen der Nacht entlarven die Unwahrheiten des Wachzustands. Wie könnten Wacherfahrungen Traumerfahrungen widerlegen?“

Da schritt Jñana[1], der oberste Richter, ein und beauftragte Tiefgründige Weisheit damit, zu beurteilen, wer Recht in dieser Wissensfrage hat.

Darauf wandte sich Tiefgründige Weisheit wie folgt an die beiden debattierenden Parteien: „Wenn ihr so weiterstreitet, könntet ihr noch viele weitere Details anführen, doch die Beweise sind bereits ausreichend. Lasst uns das, was ihr gesagt habt, noch einmal überprüfen.

Eure Zustände sind beide wahr und zugleich unwahr. Wenn ihr nicht untersucht werdet, scheint es so, als würdet ihr wirklich existieren. Wenn man euch aber genauer untersucht, entlarvt der verborgene Makel des einen den des anderen. In Wirklichkeit seid ihr ein und dasselbe.

Beide von euch haben keine wahre Existenz. Doch der Träumer gesteht ein, dass seine Täuschung eine Täuschung ist. Träumen ist also vollkommen ehrlich. Du hingegen, Wachsein, unterliegst auch der Täuschung, doch du streitest es ab. Auch wenn du noch immer noch an deiner Position festhältst, hast du nicht gewonnen.

Auch wenn Träumen weniger Scharfsinn besitzt, ist es einsichtiger geworden. Auch wenn Wachsein klüger ist, ist es unwissender geworden.

Die unterschiedliche Beständigkeit und Unbeständigkeit beruht auf Gewohnheit. Darüber hinaus gibt es keinen Unterschied zwischen euren beiden Ergebnissen.

Wachsein, folge nun dem Beispiel von Träumen und lass deine Sicht und dein Verhalten mit seinen verschmelzen, damit sie ihnen gleich werden.“

Nachdem er so gesprochen hatte, fesselte Höchste Weisheit Wachsein mit dem Seil der Achtsamkeit, reichte es Träumen und sagte: „Ihr zwei solltet euch nicht streiten. Lebt harmonisch miteinander. Wenn ihr euch im Konflikt befindet, wird dies den Dämon des Unheils über das dreitausendfache Universum bringen; wenn ihr hingegen im Einklang seid, werdet ihr in allen drei Zeiten als Wegweiser[2] dienen. Wenn ihr das begreift, werdet ihr beide die Früchte davon ernten.“

Von da an verstanden sowohl Wachen als auch Träumen, dass es keinen Unterschied zwischen ihnen gab, kein eines im Gegenteil zum anderen. Indem sie alles, was sie sehen, und alles, was ihnen begegnet, mit einem Geschmack behandeln, war ihr Streit beigelegt, und ihre Wahrnehmung wurden eins.

Gemeinsam sangen Wachen und Träumen dieses leicht verworrene und absurde, improvisierte Lied:

An jene, die behaupten, wir seien ungleich und verschieden:
Ihr irrt euch! Wir sind ähnlich und gleich.
Nur wenige sprechen von dieser Gleichheit und noch wenigere verstehen sie wirklich.
Wenn du während des Tages erkennst, dass der Wachzustand [einem Traum] ähnlich und gleich ist,
und wenn du während der Nacht den Traum nicht fälschlich für einen Traum hältst,
wird dies einen sehr wichtigen Zweck erfüllen. Jene, die sich darüber im Unklaren sind, nehmen [Wachsein und Träumen] als verschieden und sich abwechselnd wahr.
Wer dies anhand der mündlichen Anweisungen des Königs der Illusionen[3] genau prüft und nicht nur ein bloßes Lippenbekenntnis abgibt,
kann von der beglückenden Freundschaft zwischen uns
die Süße des Honigs kosten, ohne ihn zu essen,
berauschende Verspieltheit genießen, ohne zu trinken,
und einer erstaunlichen Aufführung ohne Vorbereitungen beiwohnen.
Es gibt keinen wichtigeren Kernpunkt als diesen.
Bewahrt dies alle in eurem Herzen.

Dann wurden Wach- und Traumzustand eins. Diese Einheit verschmolz zudem mit dem Raum. Der Schlichter, Tiefgründige Weisheit [Prajña], berichtete dies dem Zeitlos Wissenden König [Jñana], der über das Ergebnis überglücklich war und erklärte: „Dein Rat ist sehr weise. Mögest du von nun an die Freiheit erlangen, die bis zum Ende des Weltraums reicht, wie der Flug des großen Garudas. Ich übertrage dir dieses königliche Instrument des unzerstörbaren Raumes. Halte es nun aufrecht!

Dort verneigen sich die Blumen im Garten des weiten Raums und erbeben voller süßem Nektar. Geh und labe dich daran; seine Quelle wird niemals versiegen. Dort spielt die Tochter einer unfruchtbaren Frau zufrieden in ihrer vollkommenen, wunderschönen Gestalt. Ich bringe dir diese unsterbliche Königin als Gemahlin dar, um dich mit ihr zu vereinen und dich daran zu erfreuen. Wie Nektar im Vergleich zu Erbrochenem wird die Freude, in ihrer Gesellschaft zu sein, alles Greifen und Verlangen nach den Vergnügungen der Existenz auflösen.“

Es wird gesagt, dass Tiefgründige Weisheit dann dieser Anweisung folgte und schließlich mit dem Zeitlosen Wissenden König verschmolz und sich in ihn auflöste.

Diese symbolischen Worte, verziert im Rhythmus komponiert, sind bei sorgfältiger Betrachtung leicht zu verstehen, aber ohne Betrachtung schwer zu verstehen. Sie haben große Bedeutung, wenn sie kontempliert werden, aber ohne Kontemplation haben sie nur wenig Bedeutung.

Dies wurde in Dechen Gawa Khyil geschrieben, von dem, der Dhi genannt wird.[4]


| Englische Übersetzung von Paloma Lopez Landry auf Grundlage der mündlichen Erklärung von Khentrul Lodro Thaye Rinpoche, 2023. Deutsche Übersetzung Daniel Dastagir und Yogini „Freundin der sieben Schildkröten“, 2023. Herzlichen Dank an Karin Behrendt für die Mitarbeit und das Lektorat.


Bibliographie

Tibetische Ausgabe

mi pham rgya mtsho. „sad rmi rtsod pa'i glu sgyu ma'i rol mo dgu 'gyur“ In gsung 'bum/_mi pham rgya mtsho. 32 Bde. Chengdu: Gangs can rig gzhung dpe rnying myur skyobs lhan tshogs, 2007. (BDRC W2DB16631). Bd. 32: 652-656


Version: 1.0-20231017


  1. Zeitlose Erkenntnis, oder Yeshe (ye shes) auf Tibetisch.  ↩

  2. Wegweiser (tib. 'dren pa) ist ein geläufiges Synonym für einen Buddha, weil Buddhas die Wesen aus dem Kreislauf der Existenz herausführen.  ↩

  3. Ist ein anderer Name für den Buddha Shakyamuni.  ↩

  4. Mipham Rinpoche bezeichnet sich hier selbst als Dhi.  ↩

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